Bei Everway handelt es sich um ein Erzählspiel mit Tarot-Karten als Entscheidungshilfe, einem innovativen Charaktererschaffungssystem, und einem flexiblen heroic fantasy-setting, in das Gleichberechtigung auf bewunderswert unverkrampfte Weise integriert wurde.
Noch mehr als das Basis-System seien die sehr schönen zusätzlichen Vision Cards und das Spherewalker Sourcebook empfohlen.
Everway definiert nicht eine Welt, sondern den Umstand, daß es (ähnlich wie bei StarGate) eine unbekannte Anzahl unterschiedlichster durch "Tore" verbundene Welten gibt. Personen mit einer besonderen Begabung, die SphereWalker, können diese Tore durchschreiten. In Everway sind die Charaktere per Definition besonders -- zum einen sind sie SphereWalker. Zum anderen liegen ihre Begabungen und Fähigkeiten über dem Durchschnitt. Und schließlich sind sie — zumindest tendenziell — edel, hilfreich, und gut.
Die Entscheidungshilfe in Everway ist ein angepaßtes Tarot-Deck.Ein Tarot-Deck scheint zunächst nur ein zweiwertige Aussage zu bieten -- Karte richtig herum, Probe gelungen, Karte kopfstehend, Probe verpatzt. Das böte natürlich für jede Probe eine Chance von 50 %, was wohl die meisten Spielenden als unbefriedigend empfänden.
Der erste, naheliegende Schritt ist also, mit dem Deck nur über Erfolg und Mißerfolg zu entscheiden, wenn die Chance wirklich bei etwa 50 % liegt -- bei 90 % z.B. entscheidet das Deck nur noch darüber, ob es ein "holpriger" Erfolg wird, oder einer "mit fliegenden Fahnen."Die Spielmechanik von Everway geht einen Schritt weiter: sie bewertet nicht (nur) die Qualität eines Ergebnisses, sondern definiert seine Natur:
Die Spielenden treffen auf einen Oger in einer Höhle. Sie entschließen sich zum Angriff. Die SpielLeitung zieht Feier, Verrat, Schwert: die Charaktere haben sich in dem Oger getäuscht; er war nur die Wache, die das unheilige Fest tiefer in den Höhlen vor ungebetenem Besuch schützt; die anderen Oger kommen nun, durch den Lärm aufgeschreckt, herauf...
Die Charaktere treffen auf eine "Eingeborenen"-Hochzeit, werden eingeladen und dürfen später mit den anderen Hochzeitsgästen auf dem Boden einer der örtlichen Pfahlbauhütten schlafen. Ein Charakter schmiegt sich an einen Teil eines lesbischen NSC-Paares. Die SL zieht Blinde Wut, Versuchung und Gefühle hegen (wirklich passiert): der andere NSC erwacht schließlich, und die Katastrophe nimmt ihren Lauf...
Wie man erkennt, ist diese Mechanik eher für Erzählspiele denn für Simulationen geeignet und erfordert eine flexible SL, wenn wie im obigen Beispiel spontan einige zusätzliche Höhlen entstehen. Der SL werden Überraschungen so nicht nur durch die Spielenden bereitet; ob dies als spannend oder eher als verunsichernd empfunden wird, ist wohl individuell verschieden.
Everway liegen eine Menge Bildkarten bei. Jede Spielerin sucht sich irgendfünf Bilder aus. Dies geschieht nicht etwa durch "blindes" Ziehen von Karten, sondern durch bewußtes Ansehen beliebig vieler Bilder -- dies ist erfahrungsgemäß der langwierigste Teil der Charaktererschaffung. Aus den als am Schönsten oder Inspirierendsten empfundenen Bildern baut die Spielerin nun eine Hintergrundgeschichte. Wie sie die Bilder interpretiert, d.h., ob auf einer Karte die Oma, die größte Feindin oder die Händlerin, von der sie jenes schicksalhafte Bündel™ bekam, zu sehen ist, bleibt ihr überlassen. Wahlweise kann sie sich von auf die Rückseite der Karte gedruckten Fragen inspirieren lassen -- für das obige Bild wären dies: Woher kommt diese Frau?, Haben die Kette oder die Muscheln eine Bedeutung über das dekorative hinaus?, Warum ist nur der Hügel bewachsen?, Wer ist sie die sie die Echse im Hintergrund reitet?
Der Hintergrund erlaubt dabei beliebige para-humanoide Charaktere -- vielleicht kann ein Charakter nicht sinnvoll der aktuellen Spielwelt entstammen, einer der vielen Welten aber bestimmt.
Auch Everway kennt formalisierte Charakternotizen (hier "Hero Sheet"). Deren Besonderheiten sollen hier kurz beschrieben werden.
Einige Attribute werden durch numerische Werte beschrieben; die Summe der "Charakterpunkte" beträgt in der Regel 20.
- Name
- Namen in Everway muten stets "indianisch" an -- Manywalks, Moon In Her Eyes oder Scars wären denkbar. Das räumt im Vorübergehen und ohne erhobenen Zeigefinger mit einigen clichés auf.
Eines der mächtigsten Artefakte, die Edge of Light and Darkness, befindet sich natürlich bei Edgebearer, und zwei Seiten später wird Edgebearer dann mit she substituiert, und die Leserin wirft ihr mentales Bild von Edgebearer als Conan-Verschnitt stillschweigend weg.
- Virtue, Fault, Fate, Motive
- Die Virtue bezeichnet eine positive, die Fault eine negative Eigenschaft. Das Fate bezeichnet den aktuellen (schicksalhaften) Konflikt -- die repräsentierende Karte des Tarot steht gewissermaßen auf der Kante; durch das Handeln des Charakters wird sie in ihren positiven oder negativen Aspekt kippen. Dadurch wird sie zu Virtue bzw. Fault, und ein neuer Konflikt (ein neues Fate) tut sich auf.
Das Motive schließlich ist die grundlegendste, dauerhafte Motivation, die das Handeln des Charakters treibt.Ist der derzeitige Konflikt z.B. Mut, weil der Charakter vor kurzem vor Angst weggelaufen ist, ist vielleicht die nächste Konfrontation der Anlaß für eine neue fault (bestätigte Feigheit) oder eine virtue (Überwindung der Angst, Mut).
- Attribute
Feuer Aktives Stärke, Geschicklichkeit, ... Erde Passives Konstitution, Giftresistenz, ... Wasser Unterbewußtes Empathie, Intuition, ... Luft Bewußtes Intelligenz, Beredsamkeit, Geistesgegenwart, ...
- Powers
- Zu einer gewünschten "Macht" werden drei Fragen gestellt; jedes ja kostet einen Charakterpunkt:
Die Antworten werden einvernehmlich zwischen Spielerin und und SpielLeitung entschieden; in besonderen Fällen kann eine Fähigkeit auch "doppelt mächtig" oder gar unzulässig sein.
- Ist die Fähigkeit vielseitig anwendbar?
- Ist sie oft anwendbar?
- Ist sie mächtig?
Sich selbst in einen (Wer-) Tiger verwandeln zu können ist mächtig, aber nicht vielseitig; sich in etas beliebiges verwandeln zu können, ist auch vielseitig. Zumindest letzteres dürfte auch oft anwendbar sein. "Wanderstab zu Schlange" verwandeln zu können ist weder besonders mächtig, noch besonders vielseitig. Vermutlich ist es auch nicht oft (sinnvoll) anwendbar. Dies wäre eine Null-Punkte-Macht; von diesen darf man eine haben.- Magie
- Magie teilt sich in vier an die Attribute angelehnte Schulen ein. Beispiele dafür, was eine Magieart bei jeweils wievielen Punkten bewirken kann, finden sich im Regelbuch.
Das Magie-System läßt sich heilbringend mit dem Matrix-System ("Sag mir was Du wirken willst und worauf, und nenne mir drei gute Gründe, warum das klappen wird.") ersetzen.
- Vorderseite
- Auf der Vorderseite ist Platz für ein Bild des Charakters sowie einer frei formulierten Beschreibung der Powers oder Magie des Charakters, seiner oder ihrer Vorgeschichte und Notizen zu Habseligkeiten und dem aktuellen inneren Konflikt.
Vision Cards
Es gibt weitere Bildkarten. Anders als bei Trading Card Games bringen einem diese keinen taktischen Vorteil, sondern nur einen ästhetisch-inspirativen. Ähnlich wie bei TCGs kommen diese zusätzlichen Karten aber leider in booster packs, so daß man nicht weiß, welche Karten man erwirbt.
Die booster zeigen Bilder von einschlägig bekannten Künstlern und passen stilistisch größtenteils zueinandern, jedoch nicht zu den Karten aus der Everway-Box.Spherewalker Sourcebook
Das SS macht Vorschläge für den in der Everway-Box kaum skizzierten Hintergrund; es dokumentiert in Form von Briefen, Geschichten, Tagebuch- und Nachschlagewerkeinträgen usw. ein buntes Sammelsurium von Erscheinungen auf den verschiedenen Welten, vom Drachen über Kräuter zu magischen Artefakten, Völkern und Legenden. In bester Erzählspieltradition können alle Informationen aus dem SS auch in-game existieren; Regelmechanik oder Spielwerte wird man in ihm vergebens suchen. So läßt sich das SS in Auszügen auch als flüssig lesbare Quelle der Inspiration für andere Systeme nutzen -- auch wenn sich dort einige der abstrakteren Konzepte möglicherweise nicht adäquat umsetzen lassen: so lassen sich mit der oben erwähnten Edge of Light and Darkness nicht nur Köpfe von Körpern trennen, sondern auch Wahrheit von Lüge; mit ihr lassen sich Strecken verkürzen und "Subraumrisse" erzeugen. Diese bisweilen märchenhaft anmutenden abstrakten Erscheinungen (gezähmte Lieder, gefangene Träume) geben dem setting einen einzigartigen Flair, lassen sich aber bei Nichtgefallen auslassen, ohne daß man dann den (großen) Rest der Hilfen aus dem SS nicht mehr benutzen könnte.
Männer und Frauen kommen etwa zu gleichen Teilen vor; dabei bekleiden beide wichtige und untergeordnete, "gute" wie "böse" Positionen; eine Schwesternschaft steht allerdings nur Frauen offen, und auch die Springborn, "Amazonen" die sich auf geheimnisvolle Weise ohne Männer vermehren und auch ohne solche leben, finden keine männliche Entsprechung. (Bei den Springborn äußert sich magische Begabung übrigens durch weißes Haar, so daß ich sie mir immer ein wenig wie auf dem Bild oben vorstelle.) Den einzigen Wermutstropfen bildet ein Randnotiz über eine Vergewaltigung durch den den absoluten Menschenhaß verkörpernden letzten Drachen; ich bin mir nicht sicher, ob so etwas gerade in einen heroisch-märchenhaften Hintergrund paßt.